Wir möchten darauf hinweisen, dass die geschilderten Erlebnisse eigene Emotionen/Reize auslösen können.
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Auf einmal ist alles anders

Es war jetzt wenige Monate her. Tage und Wochen, die mein ganzes Leben für immer veränderten. Ganz, ganz langsam lichtete sich der Nebel des Schocks und die Starre des Körpers. Ich nahm meine Umwelt wieder etwas mehr wahr. Nicht so wie früher einmal, aber wieder etwas besser.
Es war jetzt wenige Monate her, als in meiner Schule ein ehemaliger Schüler Amok lief und Menschen tötete und verletzte, ehe er sich selbst richtete. Ich bin dem Täter damals über den Weg gelaufen, aber mein Kopf war nicht in der Lage, die Situation zu verarbeiten oder gar zu begreifen, dass ich in Gefahr schwebte. Ich kam aus der Schule raus, ehe sie von der Polizei dicht gemacht wurde und niemanden mehr raus oder rein ließ. Alles blieb still, aber mein Leben hatte sich verändert. Für immer.
Die Stunden, die Tage danach nahm ich überhaupt nicht wahr. Ich war im Nebel, der Schock hatte mich fest im Griff. Meine Eltern redeten mit mir, ich nickte und wusste in der nächste Sekunde nicht mehr, was sie zu mir gesagt hatten. Mein Körper bewegte sich, ich wusste aber nicht mehr, wie ich von einem Fleck zum anderen kam. Die Welt bewegte sich unglaublich schnell, oder bewegte ich mich in Zeitlupe? Ich weiß es nicht mehr. An die Tage danach erinnere ich mich nicht mehr wirklich. Zu viel ist passiert. So viel Schreckliches habe nicht nur ich in meinem Leben erfahren. Ich wusste nicht, wie ich dass alles überstehen sollte.
Der Begriff „Trauma“ lag in der Luft. Bis dahin kannte ich nicht einmal den Begriff. Noch Jahre später war mir die Bedeutung nicht richtig klar. Mir war etwas Schlimmes passiert, ja, ich habe zum Glück den Tag überlebt, ja, anderen ist es auch passiert, ja, andere haben auch damit zu kämpfen, gehen aber wieder fast normal ihrem Lebensalltag nach, warum kann ich es dann nicht? Warum ist jeder Tag ein Kampf, um hinterher weiter zu leben?
Neben einem Trauma, sind meine Depressionen in ihren Gedanken bestärkt worden und treiben die Schatten an, um mich zu verschlingen. Ich schreie und keiner hört mich. Ich winke und keiner sieht mich. Ich will nur noch weg, meinen Schatten erlegen und verschwinden. Für immer. Dass der Schmerz endlich aufhört.
Es war ein normaler Tag in einer gebrandmarkten Schule. Die Lehrer waren traumatisiert, die Schüler waren traumatisiert und wir hatten einen Fragebogen vor uns liegen, den wir ausfüllen sollten, damit die vielen, vielen Psychotherapeuten ungefähr einschätzen konnten, wer wie traumatisiert war, wer dringend Hilfe benötigte und wie für jeden Einzelnen der Tag der Tage ablief.
Damit die Polizei im Hintergrund herausfand, wie der Täter sich durch das Haus gearbeitet hatte. Ja, ich hatte den Täter gesehen. Er lief nur knapp an mir vorbei. Schwarze Gestalt, die sich merkwürdig verhielt – sich in den Moment aber noch nicht für die Schüler interessierte. Was ich damals aber noch nicht wusste.
Der Fragebogen war lang und nahm die ganze Unterrichtsstunde ein. Viel weiß ich von ihm nicht mehr, nur an diese eine Frage erinnere ich mich genau – denn sie veränderte alles – wieder.
„Wenn Sie die Möglichkeit hätten, sich umzubringen, würden Sie es tun?“
Ich überlegte lange. Sollte ich wieder lügen und alles auf Friede-Freude-Eierkuchen machen oder sollte ich ehrlich sein? Weiter lächeln, nicken und alles als gut bejahen? In diesen einen kurzen Moment gewannen die schweren, dicken Schatten der Depression und zwangen mich, das auszusprechen, was ich einfach nur noch wollte, nie aber zugeben würde.
Ich bejahte die Frage – es war raus – ich atmete erleichtert auf – es war raus. Ich habe meinen schweren Gedanken eine Stimme gegeben und zugegeben, dass ich nicht mehr wollte.
Auf einmal ist alles anders.
Ich kam innerhalb weniger Tage in Einzeltherapie – und sie rettete mir das Leben!

Autor: anonym